Ein Filmfest für die Ohren | FluxFM Berlinale 2022
Peter von Kant, Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush und Co.
18.02.2022 Ron Stoklas
Insgesamt 256 Filme werden im Rahmen der diesjährigen Berlinale gezeigt. Sind wir ehrlich: Niemand schafft es, alle zu sehen. Das gilt auch für unseren FluxFM-Kollegen Ron Stoklas. Er liefert jedoch einen Überblick über ein paar Filme, die ihr auf dem Schirm haben solltet.
Alcarràs
Der Gewinnerfilm des Goldenen Bären für den Besten Film der diesjährigen Berlinale dreht sich um die katalanische Familie Solé. Diese bewirtschaftet in der titelgebenden Stadt Alcarràs eine Pfirsichplantage. Weil das Gelände nur gepachtet ist, ist ihre Zukunft ungewiss. Der Besitzer des Grundstücks will die Pfirsichbäume fällen lassen und stattdessen Solarmodule aufstellen. In der Folge entwickelt sich ein tolles Drama über einen Generationenkonflikt innerhalb der Familie zwischen Tradition und Wandel – und das mit Laiendarsteller:innen, die wunderbar spielen.
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush
Der neue Film von Regisseur Andreas Dresen erzählt wird die wahre Geschichte der Bremerin Rabiye Kurnaz. Ihr Sohn Murat wird im Dezember 2001 in Pakistan verhaftet und anschließend in das US-Straflager Guantanamo überführt. Ohne fairen Prozess und scheinbar ohne Chance freizukommen. Ihm wird vorgeworfen Verbindungen zu den Taliban zu haben. Rabiye Kurnaz kämpft in der Folge knapp fünf Jahre für die Freiheit ihres Sones – erst ohne Unterstützung, dann mit Anwalt Bernhard Docke.
Dabei ist der Film kein nüchternes und trockenes Drama, sondern geht das ernste Thema überraschend humorvoll an. Dass das funktioniert, liegt an Hauptdarstellerin Meltem Kaptan, die ihre Rolle voller Liebe, Naivität, Energie und Lebensfreude spielt. Das macht den Film wunderbar menschlich. In jedem Moment fühlt man mit Rabiye. Sieht und spürt ihre Verzweiflung und Hoffnung. Dadurch gelingt es diesen hochpolitischen Film mit einer gewissen Leichtigkeit zu sehen. Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush ist eine klare Empfehlung.
Peter von Kant
Der französische Film dreht sich um die gleichnamige Hauptfigur Peter von Kant. In den 1970ern ist er ein erfolgreicher Regisseur. Über Schauspielerin Sidonie, seine frühere Muse, lernt er Amir kennen. Für Peter ist es Liebe auf den ersten Blick. Er ist vernarrt in den deutlich jüngeren und hochattraktiven Amir. In der Folge nimmt er ihn mit Erfolg unter seine Fittiche. Amir wird selbst zum Star und entwächst seinem Förderer und Liebhaber.
Der Film dreht sich um Liebe, Leid und eine Figur, die gefühlvoll ist und zugleich ein manipulativer Arsch – optisch wunderbar ausgestattet und künstlerisch deutlich künstlich überspitzt gespielt, ist Peter von Kant von François Ozon eine Neu-Interpretation des Films Die bitteren Tränen der Petra von Kant von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1972. Dieser wurde passenderweise vor 50 Jahren, ebenfalls bei der Berlinale erstmals gezeigt. Am Ende ist der Film sogar mehr: Es ist eher ein Film über Fassbinder. Hauptdarsteller Denis Ménochet ähnelt dem Regisseur in der Optik und auch die Story weist parallelen zu dessen Leben auf.
Eine deutsche Partei
Der Dokumentarfilm Eine deutsche Partei ist ein Art Porträt über die selbsternannte Alternative für Deutschland. Die Doku zeigt das Innenleben der Partei AfD und legt offen wie gespalten diese ist. Machtkämpfe, Selbstinszenierung, Verschwörungstheorien und die stetige Radikalisierung und Annäherung ans Verschwörungsmilieu in Zeiten von Corona werden in Echtzeit miterlebt. Filmmacher Simon Brückner hat die Partei mehr als zwei Jahre zwischen 2019 und 2021 begleitet – vor allem in Berlin und Brandenburg. Egal ob bei privaten Treffen, bei Wahlveranstaltungen oder internen Fraktionssitzungen – selbst bei einem Treffen mit Faschisten in Bosnien. Brückner war dabei und die Kamera lief immer mit.
Dabei versucht der Film das gezeigte nicht einzuordnen. Die Doku lässt Kommentare und Aktionen der Protagonisten unkommentiert. Es ist ein Drahtseilakt mit Blick auf Dinge, die geäußert werden. Ein Drahtseilakt, der funktioniert, weil sich die betreffenden Personen mit ihren Aussagen selbst entblößen. Eine deutsche Partei ist ein Film, bei dem man immer wieder den Kopf schüttelt, aber auch lachen muss. Nicht weil es witzig ist, sondern weil weil die geäußerten Ideen und Vorstellungen so absurd sind. Eine Erfahrung, die sich durch die gesamte Partei zieh. Egal ob Ost oder West. Egal ob Kreis-, Land- oder Bundestag. Die Doku zeigt offen und ungeschönt, wie die AfD intern tickt – auch wenn es an manchen Stellen weh tut.
Kalle Kosmonaut
Ein Film, wie ein dokumentarisches Langzeitprojekt - das ist Kalle Kosmonaut. Coming-of-Age-Geschichte trifft Storytelling a la Boyhood. 10 Jahre lang wurde Pascal aus Hellersdorf vom Filmteam um Tine Kugler und Günther Kurth begleitet. Anfangs ist er zehn. Am Ende 20. Pascal, der sich selbst Kalle nennt, wächst in einem Plattenbau an der Allee der Kosmonauten in Berlin-Hellersdorf auf. Kalle ist ein Schlüsselkind. So werden Kids bezeichnet, die nach der Schule nicht von den Eltern betreut werden, weil die zum Beispiel arbeiten gehen. Gezeigt wird Kalles Alltag. Aufstehen, Mittag in der Arche, Fußball spielen und Haftnotizen von der Mutter, die ihn nicht immer begleiten kann. Bereits als 10-Jähriger wirkt der Junge in den Gesprächen sachlich und reflektiert - fast ernüchtert von seiner Lebensrealität. Hier versucht die Doku aber auch das positive zu zeigen. Wie er uns seine Mutter beispielsweise abends zusammen Uno spielen. Wie sie versucht, ihm ein gutes Leben zu ermöglichen.
Kalles Geschichte erlebt man dabei in Zeitsprüngen – und erfährt dabei auch, wie sich sein Leben, aber auch seine Wünsche und Hoffnungen verändern. Beispielsweise, wenn er als Teenie mit Sommersprossen und Basecap von einer besseren Zukunft träumt. Allerdings läuft es anders – und leider völlig aus der Bahn. Drogen, Alkohol, Kriminalität. Schließlich muss er - immer noch minderjährig - für zwei Jahre und drei Monate ins Gefängnis. Hier zeigt der Film die innere Zerrissenheit von Kalle, der nie so werden wollte. Er hat Angst vor seiner Zukunft. Neben realen Aufnahmen wird die Doku durch animierte Szenen ergänzt, die sein Innenleben, seine Albträume und die Haftzeit aufgreifen.
In manchen Momenten ist Kalle Kosmonaut dabei eine Gratwanderung zwischen dem Porträt über Kalle bis hin zu einer voyeuristisch Betrachtung des sozialen Brennpunkts, wenn die Schicksale der Familie in den Blickpunkt gerückt werden. Es ist ein Hauch von übertrieben, künstlicher Betroffenheit. Am besten ist die Doku in jenen Momenten, in denen Kalle für sich steht. Dann ist Kalle Kosmonaut eine extrem gute Sozialreportage. Eine Coming-of-Age-Geschichte über einen Menschen und sein Leben im Berliner Plattenbau, mit Wünschen und Problemen dem zu entfliehen.
Aşk, Mark ve Ölüm - Liebe, D-Mark und Tod
60 Jahre deutscher Geschichtserzählung aus einem anderen Blickwinkel – nämlich dem der Gastarbeiter:innen aus dem Gebiet der Türkei, die ab 1961 in Folge des Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik gekommen sind. Alles mit Blick auf ihre Musik und ihr Leben. So lässt sich der Dokumentarfilm Aşk, Mark ve Ölüm - Liebe, D-Mark und Tod in Kurzform beschreiben. Regisseur Cem Kaya beleuchtet in seiner Doku, wie die angekommenen Gastarbeiter:innen - aber auch nachfolgende Generationen - sich musikalisch mit ihrem Leben beschäftigt haben.
Schlager, Rock, Hip-Hop - in allen Musikrichtungen finden sich ihre Geschichten. Sie erzählen von ihrer Heimat, der Familie, die sie vermissen, aber auch vom Leben in Deutschland mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und rassistischen Übergriffen. Aşk, Mark ve Ölüm - Liebe, D-Mark und Tod ist nicht nur eine Doku, die zeigt, wie bunt und tiefgreifend der migrantische Einfluss auf die Musikkultur in Deutschland ist. Die Doku zeigt auch, wie sich Gastarbeiter:innen und ihre Familien in allen Bereichen des Lebens mit diskriminierenden Hürden auseinandersetzen mussten und müssen. Ein Film, der den musikalischen Horizont öffnet und für Gänsehaut sorgt.